Als Artyom von der Arbeit nach Hause kam, wurde er von dem durchdringenden Weinen seines Sohnes empfangen – wie eine Alarm-Sirene. Seine Frau Elena saß erschöpft am Küchentisch, den Tränen nahe. Sie hatte alles versucht: gefüttert, umgezogen, gebadet, gewiegt – doch der kleine Lyowa hörte nicht auf zu weinen. Artyom nahm sie liebevoll in den Arm, flüsterte beruhigende Worte und ging dann mit ihr ins Kinderzimmer, um nach ihrem einmonatigen Sohn zu sehen.
Doch als er in das Kinderbett blickte, stockte ihm der Atem.
Lyowa war nicht da.
Auf dem Kissen lagen nur ein Zettel und ein Diktiergerät. Artyom drückte auf den Knopf, und als das Weinen verstummte, breitete sich eine unheilvolle Stille im Raum aus. Elena riss dem zitternden Ehemann den Zettel aus der Hand und las die schrecklichen Zeilen:
„Ihr hättet euch wie Menschen benehmen sollen. Wenn ihr euer Kind lebend wiedersehen wollt – hinterlegt 200.000 Dollar in einem Schließfach am Pier. Keine Polizei. Ein falscher Schritt – und ihr seht ihn nie wieder.“
Elena schrie auf:
– Wer konnte so etwas tun?!
Doch Artyom begriff sofort. Vor seinem inneren Auge tauchte das Gesicht des Hausmeisters aus der Geburtsklinik auf – jener Mann, den er angeschrien hatte, nachdem er über dessen Wischmopp gestolpert und dabei den Geschenktopf für Elena zerbrochen hatte. Damals hatte er ihn beschimpft, und der Hausmeister hatte nur kalt hervorgepresst: „Das wirst du noch bereuen.“
Artyom wollte sofort zur Polizei, doch Elena hielt ihn panisch zurück:
– In dem Brief steht doch – keine Cops!
– Aber wir wissen, wer es war. Er arbeitet im Krankenhaus. Wenn die Polizei schnell reagiert, können sie ihn fassen.
Kaum hatten sie jedoch das Revier erreicht, vibrierte Artyoms Handy.
„Letzte Warnung. Wenn du das Revier betrittst, liegt dein Sohn bald auf dem Grund der Bucht. Bring das Geld zum neuen Ort.“
Elena erbleichte und blickte panisch um sich – sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Es blieb keine Zeit. Artyom fuhr zur Bank, um das Lösegeld abzuheben. Doch auf dem Weg wurde Elena plötzlich schlecht – der Stress übermannte sie, sie übergab sich und drohte das Bewusstsein zu verlieren. Artyom musste sie nach Hause bringen.
Er ließ sie dort zurück und fuhr allein zum angegebenen Ort, wo er das Geld in das Schließfach legte. Dann zog er sich ein Stück zurück, versteckte sich unter Touristen und beobachtete. Kurz darauf erschien tatsächlich der Hausmeister – in seinem auffälligen bunten Hemd – und öffnete das Fach, nahm die Tasche mit dem Geld.
Artyom stürmte ihm nach. Der Mann ging über den Parkplatz, vorbei an Imbissen und Museen, bis er bei neuen Schließfächern ankam. Dort legte er die Tasche hinein. In diesem Moment packte Artyom ihn und drückte ihn gegen die Fächer.
– Wo ist mein Sohn?! Ich habe getan, was du verlangt hast! Wo ist Lyowa?!
Der Mann hob die Hände:
– Ich weiß von nichts! Man hat mir hundert Dollar gegeben, um die Tasche zu überbringen! Ich bin selbst Vater – ich habe zwei Kinder. Ich würde niemals…
Sein Blick verriet keine Lüge. Artyom ließ ihn los und öffnete das Fach. Es war leer. Von innen war eine Öffnung herausgeschnitten und mit einer dünnen Metallplatte getarnt. Als Artyom hinter die Schließfächer trat, begriff er: Das Geld – und der Entführer – waren weg.
Zuhause erwartete ihn ein neuer Schock – Elena war verschwunden. Auch ihre Sachen waren weg. Sie ging nicht ans Telefon. Geschockt ließ Artyom die Erinnerungen Revue passieren: ihr Drängen, nicht zur Polizei zu gehen, ihr plötzliches Unwohlsein, der Wunsch, nach Hause zu fahren. Alles war inszeniert.
Und sie war nicht allein.
Artyom fuhr zur Klinik und fand den Arzt, der bei der Geburt dabei war – Dr. Zhuravlyov. Artyom trat an ihn heran und übergab ihm einen Umschlag mit Geld.
– Bitte helfen Sie mir. Rufen Sie Elena an und sagen Sie ihr, dass bei Lyowa etwas Ernstes gefunden wurde, und dass sie ihn sofort ins Krankenhaus bringen muss.
Der Arzt zögerte, willigte dann aber ein.
– Frau Andrejewa, – sagte er ins Telefon, – hier ist Dr. Zhuravlyov aus der Geburtsklinik. Bei Ihrem Sohn wurde ein seltener genetischer Marker entdeckt. Er braucht dringend eine Behandlung. Bitte kommen Sie sofort.
Artyom hörte Elena am anderen Ende schluchzen.
– Sie kommt, – sagte der Arzt. – Jetzt das Geld.
Artyom übergab ihm den Umschlag und wartete mit klopfendem Herzen in der Empfangshalle.
Eine Stunde später erschien Elena – mit Lyowa im Arm – in Begleitung von… Artyoms jüngerem Bruder, Lew. Als sie zur Anmeldung gingen, traten Beamte des FSB und der Polizei aus dem Hinterhalt hervor. Artyom hatte alles vorbereitet.
– Sie sind wegen Kindesentführung verhaftet, – erklärte einer der Beamten.
Elena riss panisch die Arme um Lyowa:
– Er ist krank! Er braucht Hilfe!
– Nein, ist er nicht, – sagte Artyom, der sich näherte. – Ihm geht es gut.
Elena funkelte ihn voller Hass an:
– Glaubst du, du hast gewonnen? Lyowa ist nicht mal dein Sohn! Du konntest doch nie Kinder zeugen, erinnerst du dich? Was bei dir schiefläuft, ist zum Glück nicht vererbbar!
Diese Worte trafen härter als eine Ohrfeige. Artyom sah seinen Bruder an, doch der konnte ihm nicht in die Augen sehen. Gedemütigt, verraten, aber entschlossen, trat Artyom an seine Frau heran, nahm Lyowa vorsichtig in den Arm und flüsterte:
– Es ist egal. Selbst wenn ich ihn adoptieren muss – ich bin sein Vater. Und werde es auch bleiben. Während du hinter Gittern verrottest.
Und er ging – den Sohn fest an die Brust gedrückt. Denn nichts – kein Verrat, keine Lüge, kein Schmerz – konnte ihn davon abhalten, der Vater zu sein, den Lyowa verdient.